Null-Covid-Strategie in Shanghai Eine 26-Millionen-Stadt steht still

Wegen Omikron sind alle Einwohner der Metropole Shanghai auf unbestimmte Zeit im Lockdown. Damit liegt der weltgrößte Hafen lahm, viele Konzernzentralen, das Finanzzentrum Chinas. Kann die Weltwirtschaft das verkraften?

发表时间:2024-03-11


»Kontrollieren Sie die Sehnsucht Ihrer Seele nach Freiheit«, schallt es aus


dem Lautsprecher einer Drohne, die durch den Shanghaier Nachthimmel surrt. »Öffnen Sie nicht die Fenster, und singen Sie nicht.« Die Aufforderung richtet sich an eingesperrte Einwohner der Stadt, die zum Luftholen auf ihre Balkone getreten sind. Festgehalten ist die Szene in einem Video, das in den sozialen Medien kursiert.

 

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»Ich habe geahnt, dass uns das in Shanghai bevorsteht. Meine Freunde hatten mich für verrückt erklärt«, sagt Zhou Lei, ein Shanghaier Unternehmer. Der 43-Jährige hat die Kamera seines Smartphones eingeschaltet, hinter ihm ist ein schlichtes Bücherregal zu sehen. Mit seiner Frau und den beiden Kindern sitzt er in seiner 100-Quadratmeter-Wohnung fest, 24 Stunden am Tag. »Als ich gesehen habe, wie schnell sich die Omikron-Variante Anfang des Jahres in Hongkong ausgebreitet hat, da wusste ich, es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie auch bei uns landet«, sagt Zhou. Tatsächlich ist Omikron in Shanghai angekommen, mit Wucht. Die reichste Stadt des Landes steht still.

 

Die Welt mag sich daran gewöhnt haben, dass chinesische Millionenstädte kurzerhand in den Lockdown geschickt werden. Aber Shanghai ist keine Stadt wie jede andere: Die mit 26 Millionen Einwohnern größte Metropole des Landes ist das Finanz- und Dienstleistungszentrum der Volksrepublik, Sitz vieler Konzerne, der wichtigsten Börse und des weltgrößten Hafens. Keine Stadt in China ist so kosmopolitisch und vernetzt. Ihr Stillstand wird global zu spüren sein.

 

Zudem gilt Shanghais Verwaltung als die vielleicht effizienteste Chinas. Wo andere Städte ganze Viertel abriegelten, wenn eine Infektion aufgetreten war, beschränkte Shanghai sich auf einzelne Häuserblocks, für chinesische Verhältnisse ein filigranes Vorgehen. Die Kompetenz der Behörden führte dazu, dass das öffentliche Leben in Shanghai während der Pandemie weniger Einschränkungen unterlag als anderswo – und die Stadt dennoch weitgehend virusfrei blieb. Dieser Ansatz galt als Blaupause für eine chinesische Pandemiepolitik nach Null-Covid.

 

Wenn aber sogar das hoch entwickelte Shanghai einen solchen Omikron-Ausbruch nicht abwenden kann – woher die Zuversicht nehmen, dass es im Rest des Landes nicht bald genauso aussieht, sogar in der rigide gesicherten Hauptstadt Peking?

 

Shanghai zählt mehr Infizierte als damals Wuhan

 

 

Wuhan, das Epizentrum der Pandemie, zählte von Dezember 2019 bis zur Aufhebung des Lockdowns gut drei Monate später offiziell 50.008 Infizierte und 2572 Tote. Shanghai kommt längst auf mehr Infektionen. Allein am Mittwoch registrierten die Behörden 19.982 positive Fälle. Bemerkenswerterweise galten allerdings nur 322 Menschen als symp-tomatisch und wurden ins Krankenhaus eingewiesen. Die 19.660 übrigen Infizierten, die offiziellen Angaben zufolge keine Symptome aufweisen, wurden in Isolationslager verbracht. Allein in den Messehallen werden mehr als 40.000 Feldbetten aufgestellt. »Fast jeder kennt inzwischen irgendwen, der isoliert ist«, sagt Zhou. »Die Leute liegen auf Pritschen, langweilen sich und starren auf ihre Handys, was sollen sie sonst tun?«

 

 

Viele Mitarbeiter des Gesundheitswesens sagen, sie begegneten einem neuen Feind mit alten Waffen, die ihre Wirksamkeit verloren haben. Eine Person, die sich in Shanghai mit der Omikron-Subvariante BA.2 angesteckt hat, infiziert im Schnitt 9,5 Menschen. In der Frühphase der Pandemie lag dieser sogenannte R-Wert bei 2,5 bis drei Ansteckungen, sagte der prominente Shanghaier Arzt Zhang Wenhong unlängst dem Magazin »Caixin«.

 

Noch vor zwei Wochen hieß es, es werde keinen Lockdown geben. Wer anderes behauptete, dem drohten Strafen wegen des Verbreitens von Gerüchten. Wochenlang versuchte man, nur einzelne Gebiete abzuschotten, doch die Zahlen stiegen weiter. Ende März wurde schließlich Pudong abgeriegelt, das Stadtgebiet östlich des Huangpu-Flusses, der Shanghai teilt. Fünf Tage später folgte der Westteil Puxi. So sollte die Stadt kontrolliert heruntergefahren werden, am 5. April sollte alles vorbei sein. Mittlerweile wurde der Lockdown bis zum 1. Mai verlängert.

 

Hunde tragen Windeln – oder werden erschlagen, wenn der Besitzer abtransportiert wurde

 

Als die Shanghaier Ende März die Supermärkte stürmten, »da habe ich das noch belächelt«, sagt Florian Zeim. Der Deutsche lebt seit fast 20 Jahren in der Stadt und leitet dort eine Werbeagentur. Inzwischen ist dem 46-


Jährigen nicht mehr nach Lächeln zumute. »Die Versorgung funktioniert nicht mehr richtig. Wir halten vielleicht noch eine Woche durch. Freunde schreiben mir, dass sie nur noch zweimal am Tag essen.«

 

Für die an Annehmlichkeiten gewöhnten Shanghaier ist das ein kaum fassbarer Zustand. Die in China üblichen Lieferdienste, über die man per App Lebensmittel bestellt, sind überlastet. Anwohner berichten, dass sie mitten in der Nacht Bestellungen platzieren, wenn die Läden Nachschub erhalten – in der Hoffnung, dann bestünde eine größere Chance, etwas zu ergattern. Oft werden sie enttäuscht. Zwar müht sich auch die Verwaltung, die Bürger zu versorgen, doch das klappt je nach Ort unterschiedlich gut. Zeims Nachbarschaftskomitee hat ihm immerhin eine Tüte mit Gemüse überreicht.

 

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Seinen Pudelmischling darf er noch in der Gasse vor dem Haus ausführen. Für den Fall, dass diese kleine Erleichterung auch noch gestrichen werden sollte, hat Zeim vorgesorgt: Er hat saugkräftige Unterlagen gekauft. In vielen anderen Wohnanlagen tragen Hunde Windeln. Am Mittwoch verbreitete sich ein Video, in dem zu sehen ist, wie ein Pandemiehelfer in weißem Schutzanzug am helllichten Tag einen Corgi erschlägt. Angeblich war der Besitzer des Hundes zuvor positiv getestet und abtransportiert worden.

 

»Ich habe keine Angst vor dem Virus. Aber vor der Trennung von meinem

 

Sohn.«

 

 

Florian Zeim, Leiter einer Werbeagentur in Shanghai

 

 

Noch viel mehr hat die Shanghaier erzürnt, dass infizierte Kinder von ihren Eltern getrennt wurden. »Ich habe keine Angst vor dem Virus. Aber vor der Trennung von meinem Sohn«, sagt Florian Zeim. Der Junge ist sieben Jahre alt und geht in die zweite Klasse. Vor wenigen Tagen gab es Berichte, dass allein in einem Krankenhaus rund 200 isolierte Kleinkinder und Babys von nur zehn Krankenschwestern beaufsichtigt wurden.

 

Wie herzzerreißend es dabei mitunter zugeht, zeigt das Beispiel einer Shanghaier Mutter, die sich in den sozialen Medien Esther nennt. Am Samstag um 3.39 Uhr schrieb sie auf dem Kurznachrichtendienst Weibo: »@Shanghai Fabu (offizieller Account der Shanghaier Regierung –Red.) Bitte geben Sie mir mein Kind zurück.« Danach fünf weinende Emojis. Um 6.41 Uhr: »Meine zweijährige Tochter wurde am 29. März in das Jinshan Public Health Clinical Center gebracht. Wir Eltern durften sie nicht begleiten. Drei Tage später kam nur eine SMS zurück, in der stand, dass es dem Kind gut gehe.« Um 7.17 Uhr: »Helft meinem Kind!«

 

Inzwischen sollen in einigen Isolationseinrichtungen Mutter-Kind-Ecken eingerichtet worden sein. Auch Esther wurde am Dienstag endlich zu ihrer Tochter gelassen. Vom SPIEGEL kontaktiert, sagte sie: »Die Sache ist vorbei. Die Regierung hat Regelungen erlassen.« Dennoch bleibt unklar, ob ähnliche Situationen künftig ausgeschlossen sind. So steht immer noch eine offizielle Antwort auf die Bitte des französischen Generalkonsulats in Shanghai aus: Im Namen der EU-Vertretungen hatte es die Stadtverwaltung ersucht, dass Kinder im Fall der Fälle nicht unbegleitet ins Krankenhaus müssen.

 

Die Härte der Maßnahmen lässt erahnen, wie schwer der Lockdown auch die Wirtschaft der Metropole trifft. Im ersten Quartal 2020, als das Virus in Wuhan wütete, war die chinesische Wirtschaft um 6,8 Prozent


eingebrochen. Vertreter ausländischer Unternehmen in Peking äußern bereits Zweifel, ob die 5,5 Prozent Wachstum erreicht werden können, die Ministerpräsident Li Keqiang für dieses Jahr versprochen hat.

 

Der deutsche Werber Zeim kann derzeit keine ausländischen Geschäftspartner mehr bezahlen, denn für Auslandsüberweisungen müsste er persönlich auf der Bank erscheinen, was wegen des Lockdowns unmöglich ist. Unternehmer Zhou hat bereits während des Ausbruchs von Wuhan acht seiner zwölf Angestellten entlassen müssen. Die vier verbliebenen Kollegen bezahlt er derzeit weiter, obwohl die Geschäfte darniederliegen. »Ein paar Monate kann ich mir das diesmal leisten.«

 

Es wird wohl auch politische Konsequenzen nach sich ziehen, dass die Lage in Shanghai so aus dem Ruder gelaufen ist. Die Karriere von Li Qiang hängt davon ab, wie rasch der Ausbruch eingedämmt werden kann. 2017 war der 62-Jährige zum Parteichef der Stadt ernannt worden, er gilt als enger Gefolgsmann von Staats- und Parteichef Xi Jinping. Schon als Xi noch die Küstenprovinz Zhejiang leitete, gehörte Li zu seinem Führungszirkel. Parteibeobachter halten ihn für einen Favoriten, wenn es um die Nachfolge des glücklosen Ministerpräsidenten Li Keqiang geht, der Anfang 2023 sein Amt abgibt.

 

Die Zentralregierung hat die Kontrolle in Shanghai übernommen

 

Inzwischen hat Peking Vizepremierministerin Sun Chunlan nach Shanghai entsandt. Sie gilt als Apparatschik und ist mit der Pandemiebekämpfung betraut; wo sie auftaucht, werden die Maßnahmen meist verschärft. Als Sun am Wochenende in Shanghai ankam, hieß es zunächst, sie habe mit den örtlichen Genossen einen »Meinungsaustausch« geführt. Drei Tage später ließen die Behörden verlautbaren, Sun »leite« Shanghais Kampf gegen Corona. Im Klartext: Peking hat die Kontrolle übernommen. Jetzt haben die Armee und mehrere Provinzregierungen rund 40.000 Ärzte und


 

Pflegekräfte nach Shanghai verlegt.

 

 

Nach einer Abkehr von der Null-Covid-Strategie sieht es nicht aus. Zum einen, weil die Führung ihr Narrativ retten will, wonach China das einzige Land sei, das Corona im Griff habe. Zum anderen, weil es wohl gravierende Folgen hätte, sollte das Virus außer Kontrolle geraten: Etwa 130 Millionen Chinesen über 60 sind nicht oder nur unzureichend geimpft. Die Lage wird dadurch nicht besser, dass die chinesischen Totimpfstoffe geringeren Schutz gegen Omikron bieten als die westlichen mRNA-Vakzinen. Und die sind in China aus politischen Gründen noch immer nicht zugelassen.

 

In der düsteren Lage könnten manche Shanghaier auf riskante Ideen kommen. Die Behörden haben zuletzt klargestellt, dass Eltern ihre infizierten Kinder in die Isolation begleiten dürfen, wenn sie sich ebenfalls angesteckt haben. »Wie infiziere ich mich am schnellsten?«, fragte prompt eine Mutter im Internet.